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7 | Kontinent der Konflikte

7.4 Fremdeln

Lesezeit: ca. 7 Minuten
Überblick
Der Zufluchtsort Eltern - wenn das Fremdeln beginnt

„Ich verstehe es nicht, bis vor ein paar Wochen war er noch ganz anders, jetzt ist mein Kind sehr empfindlich bei Fremden.“

Wenn der Blick auf einen Fremden trifft, fallen die Tränen und das Baby beginnt zu brüllen. „Das ist mir unbekannt, das macht mir Angst“, würde das Kind sagen, wenn es bereits sprechen könnte. In vielen Fällen wundern sich die Eltern über das Verhalten des eigenen Kindes, das ein paar Wochen zuvor noch jeden mit großen Augen und breitem Grinsen empfangen hat. Doch jedes Kind birgt gewisse Schutzmechanismen, die durchaus ihre Berechtigung im Umgang mit Unbekannten und fremden Gesichtern haben. Dann spielt es keine Rolle, ob das Gesicht vorher bekannt war oder nicht. Als Ursache wird dann vermutet, dass Kinder mit zunehmendem Alter fähiger werden, ein Gesicht mit seinen charakteristischen Merkmalen zu erkennen und zu unterscheiden. Die anfängliche Anhänglichkeit kann auf Dauer anstrengend und nervenaufreibend wirken, bis die Frage aufkommt: „Ist das eigentlich noch normal?“, und, „wie reagieren wir auf ein solches Verhalten?“

Was bedeutet das Fremdeln eines Kindes?

Fremdeln ist vergleichbar mit einer Schutzfunktion gegen den Verlust der bisher als sicher empfunden Elternbindung. Das Herauslösen aus der behütenden Umgebung ist für viele Kinder eine schwer zu verdauende Veränderung. Die Trennungsangst kann als die Fortführung dieses Verhaltens angesehen werden und muss deshalb in enger Verbindung mit dem Fremdeln betrachtet werden. Die Unsicherheit, die im Zusammensein von anderen Personen im Kind hervorsticht, wird von Kind zu Kind verschieden stark ausgelebt. Während die Trennungsangst meist zur Kindergartenzeit durch die Angst verstärkt auftritt, seine Eltern nicht in der sichtbaren Nähe zu haben, ist das Fremdeln weitaus früher anzutreffen.

Ein Ausdruck der engen Bindung
Für das Kind ist wichtig, dass Eltern sein Verhalten richtig interpretieren. Denn Kinder verhalten sich nicht willkürlich komisch und wollen auch keinen falschen Erwartungen ausgesetzt sein. Was Kinder suchen, ist weiterhin die enge Bindung zu den Eltern und damit Sicherheit. Deshalb ist auch bei jedem Fremdeln Anhänglichkeit die Folge. Eltern sind der sichere Hafen, in den sich bei unruhigem Gefühlswetter zurückgezogen werden kann. Die Beschützerrolle der Eltern wird von Kindern hier eingefordert und diese möchten sich auf die Elternrolle verlassen, da die Unsicherheit und Angst real sind.

Warum fremdeln Kinder

Die Natur hat sich zum Schutz des Kindes einen klugen Mechanismus einfallen lassen. Mit etwa 8 Monaten hat das Baby bereits die ersten Herausforderungen zu meistern und kann sich durch Krabbeln von seinen Eltern entfernen. Der Erkundungsdrang und damit der Wunsch nach eigenständigen Erfahrungen und Entdeckungen steht jedoch einigen Gefahren gegenüber. Wer sich von den Eltern zu weit weg bewegt, läuft womöglich in Gefahr der Unsicherheit. Bei zu großem Abstand oder unvorhersehbaren Ereignissen wie einem fremden Gesicht folgt das Sicherheitsbedürfnis, das dem Kind sofort mitteilt: „Halt, Stopp – hier ist es mir unbekannt, die Person ist mir unbekannt!“. Zwar stellt die wilde Natur keinen gefährlichen Ort mehr für Kinder dar, die im Wohnzimmer der Eltern ihre Erkundungen durchführen, doch das „Überlebenssystem Sicherheit“ ist in den Kleinen weiterhin präsent. Dann ist der fluchtartige Rückzug in den Schoß der vertrauten Gesichter die sicherste Variante. Ausgelöst wird das Unsicherheitsgefühl meist durch die Anwesenheit einer anderen Person und dem wahrgenommenen fremden Gesicht und ist ein Zeichen der engen Bindung von Eltern und Kind. Durch die zunehmend verbesserten Sinneswahrnehmungen des Babys lernt dieses seine Umwelt differenzierter wahrzunehmen. Sind dann Mama und Papa nicht in Sicht, fehlt jungen Kindern die Gewissheit, dass die Eltern noch in der Nähe sind. Dies ist ein natürlicher Schutzmechanismus, der durchaus die Abhängigkeit von Eltern und Kind zeigt.

Auch Stimmen und Gerüche können als nicht vertraut wahrgenommen werden und führen zur Verunsicherung des eigenen Kindes, weshalb starke Gerüche nicht unbedingt zur Lieblingswahrnehmung des Babys zählen. Kinder, die dann zu fremdeln beginnen, weinen unter Umständen aufgrund ihrer innerlichen Aufregung. Eltern müssen sich jedoch deshalb keine Sorgen machen, denn das Fremdeln findet meist mit zunehmendem Alter und weiteren Lebenserfahrungen des Kindes sein Gleichgewicht und Ende.

Auf den Punkt gebracht

Dies ist kein Rückschritt im Verhalten des Kindes, sondern zeigt dessen fortschreitende Wahrnehmung und kognitive Fähigkeiten des Öffnens gegenüber seiner Außenwelt. Dass dabei Unsicherheiten entstehen, ist in der kindlichen Entwicklung nicht weiter tragisch und muss feinfühlig und mit dem richtigen Verständnis der Eltern, aber auch der „Fremden“ akzeptiert werden. Deshalb sollte diese Phase mit Respekt und der Gewissheit überstanden werden, dass Eltern über diese Entwicklungsphase als notwendigem Verlauf aufgeklärt werden. Kinder schützen sich mit dem fremdelnden Verhalten durch Instinkt, Körper, Gefühl und Bindung, all das signalisiert ihnen – erst einmal Abstand halten!

Aus der Distanz lernen Kinder ihre Umwelt einzuschätzen, bis sie ein Sicherheitsgefühl entwickeln.
Manche Säuglinge und Kleinkinder entwickeln unter bestimmten Umständen sogar ein Gefühl von Unsicherheit bei bisher bekannten Gesichtern wie den Großeltern. Dann ist eine Informierung dieser Personen wichtig, um keine falschen Rückschlüsse aus dem Verhalten des Kindes zu ziehen. Alle Beteiligten im Umgang mit Kindern sollten sich über eine solche Entwicklung im Klaren sein, sodass keine „Enttäuschung“ in das junge Kind hineininterpretiert wird. Grundlegend sollten Eltern ihr Kind beruhigen und Überreaktionen sowie ein „Drängen“ vermeiden. Auch wenn einige mit der Ablehnung nicht umgehen möchten, dürfen Sie als Eltern für Entwarnung sorgen. Distanz halten und sich vorsichtig annähern, wenn das Kind nicht möchte, muss akzeptiert werden.

Kinder erkennen bereits sehr früh den Unterschied zwischen nahen Bezugs- und anderen Personen. Bereits im Alter von 2 Monaten nehmen die Eltern die Kinder anders in die Arme als einen Unvertrauten. Jedoch werden sie mit zunehmendem Alter „reifer“, um ihre Unsicherheiten auszudrücken und zu erkennen. Studien haben gezeigt, dass Kinder stärker auf Männer reagieren als auf Frauen. Die Vertrautheit der Stimme, der Geruch und die gewohnten Gesichter erzeugen ein Sicherheitsgefühl, mittels dessen Kinder sagen wollen: „Mama und Papa, ich will bei euch bleiben, da fühle ich mich sicher“.

Zu beachten:
Manche Babys beginnen auch gegenüber Papa zu fremdeln. Ist dieser berufstätig und die Mutter die meiste Zeit mit dem Baby kann auch dies eine normale Reaktion des Kindes sein, die nicht mit Traurigkeit oder Liebesentzug von Seiten des Vaters beantwortet werden sollte. Papa wird erstmal ebenfalls als fremd eingestuft, was nicht heißt, dass das Kind nicht lernen kann, dass dieser erst abends nach Hause kommt. Auch hier ist Geduld gefragt und es sollte zu keinen falschen Interpretationen aus Sicht des Vaters führen.

Kinder brauchen Zeit
Wenn ein neuer Babysitter engagiert wird, ist eine gute Idee, wenn die neue Person vor dem eigentlichen Tag des Babysitting etwas Zeit mit der Familie verbringt. An dem eigentlichen Tag sollten die Eltern einplanen, etwas Zeit mit dem Kind und dem Babysitter zu verbringen, bevor sie das Kind verlassen. Gleiches gilt für Großeltern, die für einige Tage auf das Kind aufpassen sollen, während die Eltern weg sind. Sie sollten ein oder zwei Tage früher vor Ort sein. Hinsichtlich der Eingewöhnung bei einer betreuenden Person, z. B. einem Babysitter, sollten Eltern in dieser Phase zurückhaltend sein. Entgegen der weitverbreiteten Meinung lassen sich die Kinder das Fremdeln nicht „abgewöhnen“, indem sie dieser Situation immer wieder ausgesetzt werden. Kinder, die auf diese Art entwöhnt werden sollen, werden eher noch länger und stärker unter Trennungsängsten leiden. Richtig funktioniert es anders herum: Erst wenn das Kind entwicklungsgemäß Fremdes nicht mehr als bedrohlich wahrnimmt, kann die Gewöhnung an eine fremde Person gelingen.

Nichtzwingen
Erst einmal, ist es normal, dass Kinder nicht jedem sofort offen in die Arme rennen. Sie sollten auf keinen Fall nicht dazu bewegt werden, sich auf jeden Schoß zu setzen oder gegen ihren Willen Kontakte zu erzwingen, wenn sie dies nicht möchten. Babys sollten, wenn sie dies nicht möchten, nicht jedem in die Hände gedrückt werden. Denn mit genügend Übergangszeit und Erfahrung zeigen Kinder ihr eigenes Interesse an ihren Mitmenschen. Ihr Kind darf bemerken, dass nicht falsch ist, was es tut. Drücken Sie Ihr Kind nicht in Richtung Unbekanntes, wenn es nicht möchte. Es muss die Erfahrung machen, dass es aus der Sicherheit heraus sich zu Abenteuern hin bewegen darf. Vielen Kindern hilft eine kurze „Schnupperphase“, ein kurzes eingeleitetes Spiel, um sich Fremden gegenüber zu öffnen.

Warum fremdeln manche Kinder stärker als andere?

Verschiedene Faktoren haben auf die Heftigkeit des Fremdelns offenbar einen Einfluss, beispielsweise die Persönlichkeit des Kindes. Ist es eher neugierig und offen, fremdelt es wahrscheinlich weniger als ein Kind mit verhaltendem, ängstlichem Temperament. Auch die bereits gewonnenen Erfahrungen mit anderen Menschen können den Grad des Fremdelns beeinflussen. Ein Kind mit vielen Geschwistern und mit einem sehr engen Bezug zu den Großeltern fremdelt eher weniger. Außerdem haben Kinder eigene Wesenszüge, die sie unterscheiden. Es gibt „Draufgänger“ und „Angsthäschen“, beide sind nicht falsch in ihrem Verhalten, sondern zeigen die Vielfalt möglicher Charakterzüge. Beide greifen dennoch bei Unsicherheiten auf ihre Eltern zurück. Kinder haben ein sehr feines Gespür für ihre innere Welt und für das, was sie sich zutrauen und was nicht. Genau dann, wenn Kinder genügend Sicherheit haben, gehen sie wieder auf Entdeckungstour. Umso öfter Kinder dann eine Person sehen, desto leichter fällt es ihnen sich zu öffnen. Dabei dürfen Sie andere Personen gerne darüber aufklären, dass Ihr Kind sich in dieser Phase befindet, in der es Sicherheit sucht. In dieser Phase geben Sie Ihrem Kind nun ein Gefühl von Nähe und Geborgenheit – bis das Kind den Unterschied zwischen „fremd“ und „vertraut“ lernt.

Der Fremdel-Hilfe-Plan

  • Nehmen Sie Ihr Kind mit seiner Angst ernst.

  • Beobachten Sie Ihr Kind und helfen Sie ihm in „brenzligen“ Situationen: Nehmen Sie es zum Beispiel auf den Arm, wenn Sie merken, dass es auf eine andere Person ängstlich reagiert; gehen Sie mit ihm ein paar Schritte zurück, streicheln Sie es, sprechen Sie ein paar beruhigende Worte mit ihm.

  • Erklären Sie den „fremden“ Personen, die sich eventuell vor den Kopf gestoßen fühlen, das Verhalten Ihres Kindes. Bitten Sie ruhig um etwas Abstand, wenn sich jemand Ihrem Kind zu rasch oder zu laut nähert und es darauf ängstlich reagiert.

  • Lassen Sie Ihrem Kind Zeit, um von sich aus Kontakt aufzunehmen. Meist nähern sich Kinder, sobald sie sich bei ihren Eltern geborgen und sicher fühlen, von ganz allein der fremden Person.

  • Eine wichtige Rolle spielt auch Ihr eigenes Verhalten fremden Personen gegenüber. Wenn Sie entspannt und positiv auf die andere Person reagieren und Ihrem Kind signalisieren, dass alles in Ordnung ist, reagiert es vielleicht weniger stark, als wenn auch Sie sich ablehnend oder angespannt verhalten.

fazit

Fremdeln ist vergleichbar mit einer Schutzfunktion gegen den Verlust der bisher als sicher empfunden Elternbindung. Das Herauslösen aus der behütenden Umgebung ist für viele Kinder eine schwer zu verdauende Veränderung. Die Trennungsangst kann als die Fortführung dieses Verhaltens angesehen werden und muss deshalb in enger Verbindung mit dem Fremdeln betrachtet werden. Die Unsicherheit, die im Zusammensein von anderen Personen im Kind hervorsticht, wird von Kind zu Kind verschieden stark ausgelebt. Während die Trennungsangst meist zur Kindergartenzeit durch die Angst verstärkt auftritt, seine Eltern nicht in der sichtbaren Nähe zu haben, ist das Fremdeln weitaus früher anzutreffen.

Quellen / Literatur

Gerhard Roth (Hrsg.) Angst, Furcht und ihre Bewältigung (Hanse-Studien; 2). BIS, Oldenburg 2001, ISBN 3-8142-0851-X.

 

Hartmut Kasten: 0 - 3 Jahre. Entwicklungspsychologische Grundlagen. Cornelsen, Hamburg 2007, ISBN 3-407-56265-9.

 

L. Alan Sroufe: Wariness of strangers and the study of infant development. In: Child Development, Bd. 48 (1977), S. 731–746, ISSN 0009-3920

Sonnleitner
Susanne Sonnleitner
Familylab-Seminarleiterin,
Naturpädagogin,
Familienpflegerin