2.3 Frühforderung und sensible Phasen
Seit einigen Jahren ist bekannt, dass sich das menschliche Gehirn besonders in den ersten Lebensjahren rasant entwickelt. In der Öffentlichkeit ist jedoch das Bewusstsein, dass wichtige Grundbausteine in der frühkindlichen Phase gelegt werden, überraschend schwach ausgeprägt. Zwar spricht man über frühkindliche Bildung, Frühförderung oder sensible Phasen, doch was darunter zu verstehen ist, warum dieses Thema von öffentlichem Interesse ist, wird selten thematisiert. Eltern wollen ihre Kinder für eine Welt von morgen vorbereiten. Sie versuchen, ihren Kinder die besten Startmöglichkeiten zu bieten und wollen am besten schon vor dem Startschuss Richtung Zielgerade sprinten. Doch was bedeutet dieser „Förderwahn“? Was heißt es, sensible Phasen oder kritische Perioden in der Entwicklung seines Kindes zu begleiten? Muss die Kindheit nun auf Effizienz aufbauen, auf Vorteile, die später ihre Früchte tragen? Der Ursprung einer solchen Idee liegt in der erhöhten Aufmerksamkeit für sensible Phasen bzw. neuronale Zeitfenster. Aufgrund des großen Potenzials des kindlichen Gehirns und dem heutigen Wissen über neuronale Fenster finden sich Angebot und Nachfrage in Kursen zur Frühförderung. In diesem Land verschaffen wir uns einen Überblick. Was brauchen Kinder, die in eine Welt hineinwachsen, die bezeichnend schnell ihre Farben wechseln kann? Genau hier beginnt unsere Reise durch die Frühförderung.
Jetzt auch die Kindheit?
Jeder Mensch kann lebenslang dazulernen. Anders, als man lange Zeit annahm, ist das Gehirn darauf ausgelegt, das ganze Leben über form- und veränderbar zu sein. Kinder sind in den ersten Lebensjahren darüber hinaus meisterhafte Lerner und können innerhalb kürzester Zeit sogar mühelos zwei Sprachen erlernen. Dies liegt an der Lern- und Merkfähigkeit des menschlichen Gehirns und der raschen Aufnahmebereitschaft des Kindes. Um zu verstehen, weshalb frühkindliche Förderung in den Köpfen moderner Pädagogen überhaupt eine Rolle spielt, müssen wir die Hintergründe ins Licht rücken. Ausgehend von sensiblen Phasen und neuronalen Zeitfenstern zeigen wissenschaftliche Ergebnisse, dass es tatsächlich „Fenster“ gibt, die geöffnet sind und nach Anregung suchen.
Ein Blick in das Gehirn
Kinder kommen mit einem Grundbauplan auf die Welt. Dieser Grundbauplan wird durch die Gene vorgegeben, die die Architektur unseres Gehirns festlegen. Herzschlag, Atmung, Körpertemperatur oder Bewegungsabläufe beziehungsweise Reflexe sind bereits vollständig vorhanden und regeln wichtige und überlebensnotwendige Körperfunktionen. Das Gehirn ist jedoch von Umweltreizen und Erfahrungen abhängig, sodass sich innerhalb des Gehirns das miteinander vernetzen kann, was uns später zum Sprechen, Laufen, Denken, Handeln oder Lösen von Problemen verhilft. Wir brauchen also Erfahrungen, Anregungen und Möglichkeiten, und die frühkindliche Förderung nimmt diese Erkenntnis in Anspruch. Zum Teil hat sie damit nicht ganz unrecht, doch ist es ein Balanceakt zwischen Überforderung und Unterforderung.
In der modernen Hirnforschung zeigt sich, dass die Art und Weise der neuronalen Vernetzung in bestimmten Lebensabschnitten oder Entwicklungsphasen von Umwelteinflüssen abhängig ist. Ob Junge oder Mädchen, egal welcher Herkunft oder Hautfarbe: Die Gehirne aller Menschen auf der ganzen Welt ähneln sich weitestgehend. Mit den beiden Hemisphären, den sechs Lappen, seinen schätzungsweise knapp 100 Milliarden Neuronen und bis zu 100 Billionen Verknüpfungen (Synapsen) ist das Gehirn so etwas wie das gemeinsame Erbe der Menschheit. Jedes Gehirn ist allerdings auch einzigartig. Schon länger wissen wir um die individuelle Vernetzung der Nervenzellen. Im Lauf der kindlichen Entwicklung nimmt die Zahl der Synapsen zunächst rasant zu. Etwa ab dem zehnten Lebensjahr stabilisieren sich jedoch nur noch jene Verknüpfungspunkte, die viel genutzt werden; die anderen verschwinden. Doch jedes Kind macht etwas andere Erfahrungen, zieht eigene Lehren aus dem, was es erlebt, und erwirbt vielleicht besondere Fertigkeiten wie das Spielen eines Musikinstruments. So lässt sich leicht nachvollziehen, warum die feinen Verbindungen zwischen den Neuronen zwangsläufig von Mensch zu Mensch variieren.
Anlage und Umwelt
Das Kind entwickelt sich stets aus einem Zusammenspiel von Anlage (Gene) und Umwelt (Familie, Freunde und daraus entstehende Erfahrungen). Wiederholte oder stark emotionale Erfahrungen, die wir aus dem Zusammenspiel mit unserer Umwelt ziehen, führen zu neuronalen Vernetzungen, sprich sie werden im Gehirn fest verankert. In einer solchen Phase ist es wichtig, dass das Gehirn stimuliert wird. Deshalb bezeichnen Forscher das Gehirn als nutzungsabhängig. Je nachdem wie es genutzt wird, wird es sich neuronal vernetzen. Was wir erleben, wie wir fühlen, was wir in die Hände nehmen, hören und schmecken – alle eintreffenden Reize und Wahrnehmungen führen zum Gehirn oder beginnen hier und legen sich als neuronale Verknüpfungen nieder. Durch diesen Trick zeigt sich der Mensch als flexibles und anpassungsfähiges Wesen bereits nach der Geburt. Das Gehirn wird nach der Geburt weiter „reifen“ und auch in seiner Größe zunehmen. Dieser Reifungsprozess wird begleitet von den Erfahrungen, die ein Kind in den ersten Lebensjahren im Umgang mit seinen Eltern und seiner erlebten Umwelt machen wird.
Erfahrungen in der Kindheit
Sowohl die Qualität als auch die Vielzahl der Erfahrungen, die ein Kind macht, legen also fest, wie „dicht“ und damit leistungsfähig die Hirnstrukturen miteinander kommunizieren. Hinzu kommt, dass das Gehirn mit einer besonderen Herangehensweise seine Kompetenzen bildet. Nur diejenigen Fähigkeiten, Fertigkeiten, die wieder und wieder genutzt werden, nur diejenigen, die intensiv beansprucht sind, werden verstärkt und weiter ausgebaut – alles andere verkümmert. Wiederholte Erfahrungen festigen demnach die synaptischen Verbindungen. Eine wunderbare Erkenntnis ist hierbei, dass die Erfahrungen, die wir mit positiven Emotionen, wie zum Beispiel Begeisterung, in Verbindung bringen, einen positiven Lerneffekt darstellen, der wie Dünger für Lernprozesse dient. All unser Wissen und unsere Fähigkeiten sind in den neuronalen Netzwerken des Gehirns verankert. Man kann sich nur annähernd vorstellen, wie viel „Bewegung“ in einem Kindergehirn zu beobachten wäre. Wie wir heute wissen, verändern Erlebnisse, positive als auch traumatische, die Verbindung zwischen den Nervenzellen, die unser Denken mitbestimmen. Eine solche Feststellung ließ vielerorts aufhorchen, und der Förderwahn in den Köpfen von Eltern und Pädagogen nahm seinen Lauf. Förderung zum passenden Zeitpunkt wurde zur Devise und findet sich heute in vielen Kursen wieder. Viele Entwicklungsprozesse greifen in der Kindheit ineinander. Tatsächlich sind es Erfahrungen zu gegebenen Zeitpunkten, die durchaus eine prägende Wirkung auf uns haben und als „Gehirnfutter“ dienen werden. Das Sehen läuft über das Auge von der Retina zum visuellen Cortex in der Hirnrinde, beim Hören geht es zum Hörcortex im Schläfenlappen. So weiß man heute, dass auch das Sehvermögen sich nach der Geburt noch ausbilden wird, diese Phase liegt zwischen dem vierten und dem achten Lebensmonat und verläuft in den meisten Fällen problemlos (die U-Untersuchungen begleiten die Eltern hierbei). Ein Baby sieht maximal bis 30 Zentimeter scharf. Hier ist keine „besondere“ Förderung nötig. Mit seinem Kind in Kontakt zu treten, es liebevoll zu umsorgen, gemeinsam zu lächeln ist die beste Förderung in diesem Bereich. Wenn das Baby fit und munter ist, gehen Eltern ganz intuitiv näher an das Gesicht ihres Babys, damit sie erkannt werden. Aufregender wird es bei der sprachlichen Entwicklung. Hier hat die sensible Phase tatsächlich eine tiefere Bedeutung, worauf wir später eingehen werden.
Was sind sensible Phasen?
Von einem kritischen Zeitfenster, einer sensiblen Phase oder einer kritischen Periode in der Entwicklung spricht man dann, wenn Erfahrungen in einem Lebensalter der Kindheit eine prägende Wirkung für das ganze weitere Leben haben. In der Entwicklungspsychologie bezeichnen sensible Phasen Zeitspannen, in denen zugehörige Gehirnstrukturen ausgebildet werden. Zu dieser Zeit haben Lernerfahrungen eine besondere Wirkung, und Kinder scheinen zeitweise besonders lernbereit zu sein. Sprich Anregungen haben einen enormen Einfluss auf die kindliche Entwicklung. Sensible Phasen sind biologisch (genetisch) vorgegeben und auf verschiedene Reize, sogenannte Schlüsselreize, besonders sensibel. Das Gehirn ist hier in seiner Aufmerksamkeit scheinwerferartig auf bestimmte Bereiche ausgerichtet. Diese ausgerichtete Wahrnehmung zeigt sich für Eltern nicht unmittelbar, sondern ist eher dadurch zu erkennen, dass Kinder sich für bestimmte Dinge besonders interessieren, zum Beispiel der Säugling, der gerne Gegenstände greift und zum Mund führt. Dabei ist wichtig zu wissen, dass kein Kind mit einem anderen Kind vergleichbar ist und man nicht eindeutig bestimmen kann, wann welches Kind in welcher Phase ist – auch sind sie individuell stark unterschiedlich.
Bindung als Grundstock aller Lebensbereiche
Vor jeder Idee einer Förderung steht die Beziehung, die Fürsorge, Nähe und Geborgenheit für Kinder. Kinder unter drei Jahren suchen die Nähe ihrer Bezugspersonen und wollen aus dieser Sicherheit heraus die Welt entdecken. Soll die Persönlichkeits- und Potenzialentwicklung gelingen, brauchen Kinder Zuneigung, warme Worte, Feingefühl und Ermutigung. Diese Voraussetzungen sind vorrangig wichtiger, als das Gehirn auf Musik und eine zweite Sprache einzustellen. Kinder brauchen emotionale Sicherheit. Sie wollen durch ihre Bezugspersonen Kraft tanken, um sich ein Selbstbild aufzubauen, das getragen wird durch eigenes Handeln und unterstützt durch Selbstsicherheit, die Kinder nur dann finden, wenn Sie sich sicher gebunden fühlen. Psychologische Forschungen haben ergeben, dass eine frühe emotionale Bindung des Säuglings zu einem oder mehreren Menschen die Basis für spätere Beziehungen ist: Ein Kind, das vor allem im ersten Lebensjahr keine festen Bindungen herstellen konnte, wird auch später in sozialer Hinsicht erheblich benachteiligt sein. Man kann davon ausgehen, dass eine intensive emotionale Beziehung nicht nur für die Ausbildung der Beziehungsfähigkeit bedeutsam ist, auch die gesamte Entwicklung des Kindes wird beeinträchtigt, wenn sie fehlt. Die ersten Lebensjahre sind also eine Phase der Grundlegung zwischenmenschlicher Bindungsfähigkeit. Sie stellen die Basis für den gesamten weiteren Lebensweg dar.
Lernen kann man immer – nicht nur in sensiblen Phasen
Es gibt jedoch auch Fähigkeiten, deren Aneignung nicht in die sensiblen Phasen fallen, man kann sie vielmehr permanent – während des ganzen Lebens – erlernen. Das soll heißen, dass Lernen nicht nur in einer bestimmten Phase des Lebens, zum Beispiel in der frühkindlichen, stattfindet, sondern Menschen im Allgemeinen ihr Leben lang lernen. Dabei wird im Gehirn nicht nur angebaut, sprich Neues dazugelernt, sondern auch stets umgebaut und angepasst. Das Gehirn ist plastisch, es ist ein Leben lang veränderbar und aufnahmefähig. Wenn auch manchmal nicht mehr ganz so leicht eine neue Sprache gelernt werden kann wie in den Kinderjahren, ist dies weiterhin wunderbar möglich. Das Zauberrezept und der Dünger hierfür heißen Bedeutsamkeit und Interesse für den Einzelnen.
Sprachliche Entwicklung
Die Sprache hat ihre sensiblen Phasen und innerhalb dieser Zeitspanne lernen Kinder die Sprache, die sie hören, wie aus Zauberhand. In der sprachlichen Landschaft heißt Förderung gute Kommunikation, aufeinander bezogene Unterhaltung und Ermutigung vor Entmutigung. Wenn Eltern gemeinsam mit ihrem Kind den Austausch pflegen, ihren Umgang mit dem Säugling feinfühlig mit Worten, unterstützt durch Mimik und Gestik, begleiten, fordern sie die kognitiven Fähigkeiten des Kindes heraus.
Begleite ich die frühen Babyjahre mit mimischen und gestischen Ausdrücken? Zeigen Sie auf Gegenstände, die Sie benennen und begleiten Sie ihre sprachliche Ausdrücke, dann hilft dies Kindern nachweislich, besser Zusammenhänge zu bilden.
Schon vom ersten Tage der Geburt treten Eltern und Kind in einen kommunikativen Austausch. Auch wenn dieser sich noch nicht vergleichen lässt mit der Muttersprache, die es zu erlernen gilt mit all ihren grammatikalischen Regeln, herrscht vom ersten Tag an Kommunikation. Der Säugling ruft nach seinen Eltern, um seine Bedürfnisse gestillt zu bekommen; es wird über Mimik, Gestik und Körperkontakt miteinander „gesprochen“. Das frühe intensive Interagieren in den Säuglingsjahren, sprich mit Händen und Gesichtsausdrücken auf die kindliche Welt einzugehen, fördert das spätere Sprachvermögen ungemein.
Vom Lallen und Brabbeln eines Babys bis hin zur Sprache benötigt es vor allem eine sprachlich anregende Umgebung. Denn dort, wo nicht gesprochen wird, gibt es auch keine Sprache zu lernen. Die zweite Phase reicht von acht oder neun Lebensmonaten bis etwa zur Hälfte des vierten Lebensjahres und wird als Reifeperiode bezeichnet. Fehlt es in dieser Zeit an Stimulation des Gehirns entsteht ein Mangel an verfügbaren Informationen, der das neuronale Wachstum verhindert. Man kann ungefähr einschätzen, dass ein Kind, das bis zum Alter von zehn Jahren keine Sprache hört, diese höchstwahrscheinlich nicht mehr erlernen kann. Dann werden die Synapsen abgebaut beziehungsweise abgeschaltet, die uns zum Sprechen befähigen. Hört ein Kind ein Wort wiederholt, stabilisieren sich im Gehirn die Vernetzungen, durch die wiederkehrende Wahrnehmung entstehen sogenannte Neuronen-Verbindungen.
Die Schaltkreise in der Hörrinde zur Analyse von Wörtern formen sich mit einem Jahr. Danach nimmt die Sprechweise der Kinder Lautart und Rhythmus der Muttersprache an. Schon in diesem Alter können sich Kinder eine zweite Muttersprache perfekt aneignen. Ab dem zehnten Lebensjahr nimmt diese Fähigkeit ab. Die richtige Förderung wird darin gesehen, viel mit Kindern zu sprechen. Doch wie immer bestimmt nicht die Quantität der Worte, sondern auch die Qualität der Gespräche den Erfolg. Die Unterschiede, die dabei im Wortschatz entstehen, sind nachgewiesen und sie finden diese Ergebnisse und Unterstützungsmöglichkeiten im Kontinent der Sprache: Land der Sprache und Interaktion. Jedoch gleicht dies nicht einem Förderkurs, sondern einer Einstellung und einem Verständnis über die Qualität des Austausches von Eltern und Kind. Voraussetzung ist jedoch, dass eine sprachlich anregende Landschaft die Kinder umkleidet und die Qualität der sprachlichen Umgebung gegeben ist. Eltern können mit einfachen Methoden, die sie im Kontinent der Sprache finden, vom ersten Tag an ihr Kind durch diese Phase tragen, im gemeinsamen Austausch – ganz ohne „Förderwahn“, allein durch ein Verständnis für die Wichtigkeit früher sprachlicher und positiver Interaktionen.
Mehrsprachigkeit
Bei der Frage, ob Kinder, die zweisprachig aufwachsen, einen Vorteil haben, zeigen Studien unterschiedliche Ergebnisse. Die Theorie dahinter besagt, dass Kinder, die mit zwei Sprachen in Kontakt kommen, auch lernen, schneller zwischen beiden Sprachen hin und her zu wechseln, was einem höheren kognitiven Anspruch nahe kommt. Die Effekte, die sich hieraus ergeben, sind aber durchaus widersprüchlich. Nicht für jedes Kind ist ein und dieselbe Methode geeignet. So gibt es starke Unterschiede von Kind zu Kind. Diese stehen in Zusammenhang mit einer unterschiedlichen Persönlichkeit, aber auch ihrer Aufgeschlossenheit gegenüber Neuem. Manchen Kinder fällt das Lernen einer zweiten Sprache leicht, anderen gefällt vielleicht nicht, wo sie diese lernen müssen, zum Beispiel im Sprachunterricht. Dennoch sind die Ergebnisse durchaus vielversprechend und zeigen, dass zwei Sprachen sehr anregend für die kognitive Entwicklung sein können. Doch nicht alles, was Erfolg verspricht, muss umgesetzt werden – das Wort Kindheit schreibt auch ohne Frühförderung eigene Geschichten.
Nur weil Kinder die Voraussetzungen mitbringen, eine zweite Sprache zu lernen, heißt das nicht, dass sie es auch müssen. Es heißt auch nicht, dass das eine Kind später Vorteile hat, dass es erfolgreicher In Beruf und Karriere sein wird. Dies ist nur schwer messbar. Das spätere Leben hängt von vielen Faktoren ab. Ob man zwei Sprachen spricht oder nicht, lässt nicht auf spätere Interessen, den IQ oder sonstige Bewertungsmaßstäbe schließen. Soll ein Kind nur deswegen in einen Kindergarten geschickt werden, weil es dort bilingual aufwächst, ist dies eine Entscheidung, die die Eltern treffen können. Sie müssen sich jedoch im Klaren sein, dass dies kein Indikator für späteren Karriereerfolg ist. Verschiedene Bedingungen beeinflussen sich hier gegenseitig. Wie gefestigt ist das Kind in seiner Muttersprache? Sogar eine zweite Sprache lernen Kinder relativ einfach, ohne sich wirklich einen „abzubüffeln“. Sie hören zu, lernen die Bedeutung eines Wortes, setzen es in den Kontext ihrer Umwelt und speichern die grammatikalischen Regeln einer zweiten Sprache ziemlich beiläufig ab. Zweisprachige Kindergärten bieten genau diese Begleitung an, und es bleibt Eltern selbst überlassen, diese Möglichkeit zu nutzen. Zweisprachige Familien bemerken die immense Fähigkeit, die ein Kind in diesem Feld mitbringt. Jedoch sprechen diese jeden Tag zweisprachig mit ihrem Kind. Da Papa und Mama womöglich unterschiedlicher Herkunft sind oder unterschiedliche Muttersprachen sprechen, hat dies eine ganz andere Auswirkung als ein bilingualer Kindergarten oder sprachfördernder Unterricht. Wenn Eltern meinen, ihr Kind könne mit einer Stunde am Tag eine zweite Muttersprache erlenen, täuschen sie sich – dafür benötigt es tägliche Kommunikation. Ob man dies nun möchte oder nicht, bleibt in den Händen einer Familie.
Fazit: Mehrsprachig aufzuwachsen hat sicher seine Vorteile. Die Studienlage zeigt, dass zweisprachig aufwachsende Kinder in bestimmten Aufgaben sehr gute Ergebnisse erzielen. Zwei Sprachen zu hören ist anregend, auch für die Gehirnentwicklung. Schwierig wird es dann, wenn ein Kind nicht möchte, aber muss. Ist die Möglichkeit gegeben, können Eltern Kinder durchaus in einem mehrsprachigen Kindergarten als gut aufgehoben ansehen. In den meisten Fällen haben Kinder keine Probleme damit. Wenn sie jedoch die Möglichkeit nicht haben und nicht wünschen, hat dies keine Auswirkung auf das Wohlbefinden oder die späteren Fähigkeiten. Die Kindheit hat viele Lebensbereiche, aus welchen Kinder ihre Fähigkeiten schöpfen werden.
Musikalische Früherziehung bei Kindern
„Die Studie zeigt eindrucksvoll auf, dass frühzeitige musikalische Erziehung Intelligenz, Sozialverhalten und schulische Leistung fördert. Musik und Musizieren leisten so einen entscheidenden Beitrag zur Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft.“ Christian Wulff, Ministerpräsident von Niedersachen 2003–2010
Musikalische Früherziehung – Unnötiger Trend oder sinnvolle Beschäftigung?
Musik – sie erweckt in jedem Kind, unabhängig vom musikalischen Talent, eine starke Euphorie und Lebensfreude. Und genau deshalb entspringt musikalische Früherziehung keinem Trend übereifriger Eltern, sondern einer sinnvollen Förderung der geistigen Fähigkeiten, dem Ausdrucksvermögen und der Kreativität eines Kindes. Laut Sabine Hirler, Pädagogin für Musik und Rhythmik, beginnt diese Aufmerksamkeit gegenüber Tönen bereits im Mutterleib: Im Prinzip beginnt das Hören schon im Mutterleib: Das Ungeborene hört hier den rhythmischen Herzschlag der Mutter, ihre Stimme sowie Geräusche aus der Außenwelt – und es reagiert mit Bewegungen auf die Hörreize.
Man hat in verschiedenen Studien gezeigt, dass die Kinder, die früh ein Instrument erlernen, mit einer gewissen Leichtigkeit mit diesem umgehen. Diese Leichtigkeit ist bei Unterrichtsbeginn im Erwachsenenalter nur schwer zu erreichen. Auch das Notensystem lernen Kinder spielerisch in jungen Jahren. Töne trainieren das Gehirn und haben einen Einfluss auf logisches Denken. Es lassen sich durchaus Unterschiede beobachten, wirft man mithilfe moderner bildgebender Verfahren einen Blick auf die Großhirnrinde. In einem Hirngebiet, das Meldungen von den Muskeln, der Haut und den Gelenken bekommt, waren bei Frühstartern signifikant mehr Nervenzellen für die Finger der Greifhand zuständig als bei Spätstartern. Deshalb kann jeder, der als Kind die Saiten zupfte, selbst nach jahrelanger Abstinenz noch passabel spielen. Zusammengefasst: Die sensible Phase wird von drei bis zehn Jahren dauernd angesehen. Musikalische Betätigung verbessert viele intellektuelle Fertigkeiten. Bleibende neurologische Veränderungen konnten bei Kindern, die Gitarre oder Violine spielen, nachgewiesen werden. Als richtige Förderung wird angesehen, viel mit dem Kind zu singen, ihm Melodien vorzuspielen und es mit einem Instrument vertraut zu machen, wenn es Interesse zeigt.
Motorische Entwicklung
Die sensible Phase für die motorische Entwicklung reicht bis etwa in das vierte Lebensjahr hinein. Dafür ist die motorische Großhirnrinde zuständig, so haben Kinder schon mit Beginn des dritten Lebensjahres ihre Bewegungen so einstudiert, dass Purzelbäume oder Balancieren möglich ist. Wer als Kind springt, hüpft, tanzt und sich viel bewegt, trainiert sein Gehirn und damit die Fähigkeit, den eigenen Körper zu steuern und ihn nicht als grobmotorisch zu erleben. Als wichtige Förderung wird dabei angesehen, seinem Kind Bewegung zu ermöglichen. Kinder haben einen natürlichen Bewegungsdrang, der sich in vielerlei Hinsicht zu erkennen gibt. Eltern helfen dabei ganz intuitiv ihrem Kind beispielsweise beim Balancieren, indem sie begleitend die Hände halten, während das Kind seine ersten Gehversuche bestreitet. Bewegung ist ein Thema, das wir sowohl im Kontinent der Gesundheit vertiefen als auch in den ersten zwölf Lebensmonaten im Kontinent der Babys. Wichtig ist jedoch klar zu erkennen, dass die motorische Entwicklung durch Bewegungen maßgeblich gesteuert wird. Je nachdem, welche Möglichkeiten einem gegeben sind, gibt es wunderbare Wege, sein Kind auch zuhause mit Musik, Instrumenten oder auch gemeinsamen musikalischen Versuchen zu begleiten – es muss kein teurer Kurs sein.
Emotionale Entwicklung
Für die emotionale Entwicklung haben wir Ihnen im Kontinent der Kinder: Land Emotionale Intelligenz bereits ausführlich aufbereitet, wie sich Kinder langsam in ihrer Gefühlswelt entwickeln. Die sensible Phase dauert vom sechsten Monat vermutlich bis zur Pubertät. Der frontale Cortex (hinter der Stirn) ist im zweiten Lebensjahr besonders aktiv. Als richtige Förderung wird angesehen, Kinder auch bei Misserfolg zu unterstützen, über Gefühle zu sprechen und diese von innen nach außen zu tragen, und auf diese Weise ein positives Selbstwertgefühl aufzubauen. Besuchen Sie den Kontinent der Kinder um zu erfahren, wie Sie Ihr Kind in seiner Gefühlslandschaft unterstützen können.
Fördern oder nicht?
Alltagstauglich, familiennah und kindheitsfreundlich – ja. Förderung hat ihre Berechtigung. Die Kindheit in ein Projekt umzugestalten, jedoch nicht. Es wird dann schwierig, wenn Eltern alles daransetzen, ihr Kind in Programme und Kurse unterzubringen und dem Kind ein Stück seiner Unbeschwertheit nehmen. Wann und wie man sein Kind fördern will, bleibt jedem selbst überlassen, und Möglichkeiten anzubieten ist nicht der falsche Weg. Dabei sollte man jedoch stets darauf achten, woran das Kind wirklich Freude hat. Geht es nämlich ungern in eine Gruppe oder zu einem Kurs, sollte man sich zwei Mal überlegen, ob man sein Kind weiterhin gehen lässt, „nur“ um es zu fördern. Kompetenzen erlangen Kinder auch durch ihre freie Gestaltung im Spiel, mit Gleichaltrigen, in der Interaktion mit Eltern, einfach dann, wenn sie sich mit ihrer Umwelt anregend auseinandersetzen und Eltern sie liebevoll begleiten. Denn eines kann kein Kurs dieser Welt: Liebe, Vertrauen und Geborgenheit schenken – übrigens mitunter die wichtigsten Voraussetzungen für unser Gehirn, um zu lernen und zufrieden zu leben.
Nichts ist wertvoller als das Spiel, nichts anregender für geistige Kräfte als Abenteuer und Fantasiegeschichten im freien kindlichen Spiel. Frühförderung in unserem Sinne heißt, das Kind auf seiner Entdeckungsreise zu begleiten, die richtigen Ansätze zu bieten, um die Interessen der Familie und die Begeisterung des Kindes aufzunehmen. Förderung aufgrund eines eventuellen Erfolges für Karrierewege – das sollte Kindheit nicht sein. Haben Sie jedoch Zugang zu einem mehrsprachigen Kindergarten, einen tollen Musiklehrer für Kindergruppen und ein Kind, dass sich gerne dort hinbewegt, dann versuchen Sie es. Hat Ihr Kind Freude daran, fühlen sich alle wohl – das ist Kindheit.
Kerstin Konrad, Christine Firk, Peter J. Uhlhaas: Hirnentwicklung in der Adoleszenz: Neurowissenschaftliche Befunde zum Verständnis dieser Entwicklungsphase. In: Deutsches Ärzteblatt International. (Dtsch Arztebl Int) 2013, Band 110, Nr. 25, S. 425–431, doi:10.3238/arztebl.2013.0425; Artikel in Deutsch.
Wolf Singer: Was kann ein Mensch wann lernen? Frankfurt am Main 12. Juni 2001 (Vortrag anlässlich des ersten Werkstattgespräches der Initiative McKinsey bildet in der Deutschen Bibliothek im Rahmen des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung). (volltext als PDF-Datei)
Stangl, W. (2019). Stichwort: 'sensible Perioden'. Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik.
WWW: https://lexikon.stangl.eu/1523/sensible-perioden-phasen/ (2019-08-07)
Ciwa Griffiths, J. Ebbin: Effectiveness of early detection and auditory stimulation on the speech and language of hearing impaired children. HEAR Center 1978.
Fachportal Pädagogik: Arpad Götze: Wahre Habilitation hörgeschädigter Säuglinge, in: Hörgeschädigte Kinder 20, 1983.
Eckhard Friauf: Neuronale Grundlagen der Wahrnehmung – die „kritische Periode“ in der frühkindlichen Entwicklung. Universität Kaiserslautern 2012.
Judith Simser: Die Bedeutung früher Erkennung und Intervention, in: Auditory-Verbal Therapy for Children with Hearing Impairment, Annals Academy of Medicine, Singapore, Volume 34, May 2005.
Manfred Spreng: Physiologische Grundlagen der kindlichen Hörentwicklung und Hörerziehung. Universität Erlangen 2004.
Naturpädagogin,
Familienpflegerin