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11 | Kontinent der MedienRatgeber

11.3 Medien und Gehirnentwicklung

Lesezeit: ca. 6 Minuten
Überblick
Medien und ihre Wirkung auf das Gehirn

Der alltägliche Umgang mit den Neuen Medien führt nach Meinung von Neurowissenschaftlern dazu, dass Gehirnzellen sich verändern, wodurch allmählich neue neuronale Bahnen in unserem Gehirn gestärkt und alte geschwächt werden. Man glaubt, dass vor allem die Gehirne der Kinder verändert werden, denn keine Generation davor ist jemals der Stimulation durch Medien in solchem Umfang ausgesetzt gewesen. Kinder und Jugendliche wachsen mit Computer, Internet und Handy auf und haben ihr Gehirn in diesen besonders sensiblen Phasen auf diese Neuen Medien eingestellt. Auch viele Erwachsene und Senioren gehen inzwischen routiniert mit dem Computer um, dennoch trennt sie von der neuen Generation der Mediennutzer eine Kluft, denn das menschliche Gehirn hat seine größte Plastizität, die größte Formbarkeit in den Kindheitsjahren, in denen eine Vielzahl von neuronalen Verschaltungen (Synapsen) gebildet wird, die später in der Pubertät wieder um 60 Prozent reduziert werden („pruning“ bedeutet, dass Verbindungen, die das Gehirn für unnötig erachtet, die selten abgefragt werden, wieder gekappt aufgelöst werden. Manche befürchten eine Schwächung jener neuronalen Arreale, die für den zwischenmenschlichen Kontakt zuständig sind, denn digital orientiert Aufgewachsene sind schlechter in der Lage, körpersprachliche Signale ihres Gegenübers zu deuten.

Deshalb können sich Bewegungen, Spielen und Toben wie auf einer CD im Gehirn des Kindes einbrennen. Fehlt diese räumliche Bewegung und wird sie etwa durch Tablet-Wischen ersetzt, so fehlt dem Gehirn quasi der Baustoff für den Weiterbau des Denkapparates – die Bautätigkeit erlahmt. Und nicht nur das, wie wir später noch sehen werden. Falsche Baustoffe in der Gehirnentwicklung können Sucht, Angst und lebenslang geminderte Lern- und Denkfähigkeiten hervorrufen. Deshalb ist es auch in der Wissenschaft unumstritten, dass sich körperliche Aktivitäten des Kindes sofort in den reifenden Rindenfeldern des Großhirns niederschlagen, wobei sie Struktur und Ausdehnung der neuronalen Netze beeinflussen. Dazu müssen kleine Kinder differenzierte körperliche Aktivitäten ausüben. Sie sollten ihre Hände verwenden, um Bilder zu malen, Knetfiguren zu formen oder zu basteln. Kinder purzeln, klettern und tollen herum – genau in der kritischen Phase, in der sich zeitgleich modulare Groß- und Kleinhirnfelder funktional organisieren. Dann fällt es Schulkindern später leicht, die vorgebahnten feinmotorischen Rindenfelder zum Schreiben und Lesen einzusetzen – und im jugendlichen Alter mit digitalen Geräten sinnvoll umzugehen.

Das Gehirn der Zukunft

Gewöhnt an eine rasche Abfolge von visuellen und auditiven Reizen finden sie es schwer, ihre volle Aufmerksamkeit auf eine Sache zu richten oder über längere Zeit zuzuhören. Sie neigen auch dazu, mehrere Medien parallel zu nutzen und zeigen vermehrt Symptome einer Aufmerksamkeitsdefizitstörung (ADHS). Im Zustand fortgesetzter Aufmerksamkeit befindet sich das Gehirn in ständiger Alarmbereitschaft und hält ununterbrochen Ausschau nach einem neuen Kontakt oder einer spannenden Neuigkeit oder Information, hat aber keine Zeit mehr zur Reflexion oder Kontemplation. Besonders Jugendliche können auf diese Weise zu „Stimulus-Junkies“ werden, um Gefühlen wie Langeweile auszuweichen. Chronisches und intensives Multitasking kann die angemessene Entwicklung des frontalen Kortex verzögern, sodass es dann schwerer fällt, Belohnungen aufzuschieben, Reaktionen anderer Menschen abzuschätzen, vorausschauend zu planen und abstrakt zu denken. Andererseits muss bedacht werden, dass der gegenwärtige Überfluss an Informationen viele Menschen einfach nur irritiert, doch wenn man in der Geschichte zurückblickt, hatten die Menschen dieses Gefühl schon bei der Erfindung der Druckerpresse, als sich Menschen beschwerten, dass sie bei so vielen Informationen nicht mehr die wesentlichen Dinge der Welt im Auge behalten könnten. Auch Bibliotheken wurden anfangs kritisiert, da angeblich so viele Bücher in den Regalen liegen, sodass man keines mehr finden könnte. Auf der anderen Seite tragen aber die Neuen Medien durch E-Mail, Internet und Computerspiele auch dazu bei, den Verstand zu schärfen, d.h., schneller auf visuelle Stimuli zu reagieren, große Informationsmengen rascher zu verarbeiten und schneller zu entscheiden, was wichtig ist. Gehirnprozesse gewinnen dadurch an Effizienz, was allmählich auch unsere Vorstellung davon prägen wird, was „Intelligenz“ ist. Das Gehirn der Zukunft wird nach Ansicht von Small & Vorgan (2009) Technik-erfahren und bereit sein, Neues auszuprobieren und es wird auch in der Lage sein, erfolgreich zu multitasken und volle Konzentration aufzubringen, es wird über fein abgestimmte verbale und nonverbale Fähigkeiten verfügen. Bei Neuen Medien entwickeln die Menschen relativ rasch eine eigene Nutzungsform und Sprache, die sich von unten nach oben, nicht nach der Intention der Hersteller durchsetzt. Gerade im Internet setzen Nutzer immer wieder eigenen Konventionen, etwa bei Twitter, das als Verbreitungswerkzeug für Informationen, als Nachrichtenquelle oder zur losen Kommunikation mit Bekannten benutzt wird.

Das menschliche Gehirn und Medien

Das menschliche Gehirn ist zwar hoch anpassungsfähig, d. h., Menschen können sehr viel lernen, doch die genetische Grundkonstitution des Gehirns verändert sich nur in Zeiträumen von Zehntausenden von Jahren. Ein aktuelles damit verbundenes Problem ist, dass Menschen zu viel Wissen auslagern und nicht mehr selbst versuchen, Wissen abzuspeichern, was aber notwendig wäre, um über komplexe Probleme nachdenken zu können und selber auf neue Lösungen zu kommen. Digital Natives denken bei einfachen Fragen gar nicht mehr darüber nach, ob sie die Antwort selbst wüssten, sondern versuchen sofort eine Internetsuche. Doch vernünftige Suchanfragen sind letztlich nur möglich, wenn man schon viel weiß, denn sonst erhält man tausende Antwort-Treffer in 0,4 Sekunden, die man aufgrund fehlenden Grundwissens nicht bewerten kann, sondern von einer Suchmaschine nach irgendwelchen Kriterien geordnet wurde. Die meisten NutzerInnen lesen auch nur die ersten drei Treffer und glauben dann, die richtige Antwort zu haben, doch um eine Antwort als gut oder schlecht einschätzen zu können, muss man schon ein umfangreiches Vorwissen besitzen. Durch die Neuen Medien mit der Verfügbarkeit von Informationen – und das in riesigen Mengen – beginnt das menschliche Gehirn durch die neuen digitalen Lesegewohnheiten flacher und ungeduldiger zu denken, wodurch Menschen einen Teil ihrer Fähigkeit zur Analyse komplexer Fragen verlieren. Untersuchungen zeigen auch, dass etwa Links in Hypertexten sogar dann ablenken, wenn sie nicht aufgemacht werden, nur weil sie vorhanden sind, denn Links können den Impuls im Kopf auslösen, auf die neue Netzseite zu springen. Diesen Wunsch muss das Gehirn unterdrücken und dieses Unterdrücken belastet das Arbeitsgedächtnis. Informationen zu besitzen und Denken zu können ist aber ein Unterschied, denn um ein Thema wirklich zu durchdringen, muss man selber im Kopf Informationen und Muster abgespeichert haben und damit arbeiten.

Das Gehirn ist kein reiner Datenspeicher, sondern wenn Menschen auf einem Gebiet viel lernen, d. h., Experte oder eine Expertin werden, verändert sich deren Gehirn, und die Wahrnehmung auf das Thema funktioniert anders, ebenso Denken und Handeln. Nicht zuletzt ist das menschliche Gehirn eine Bewertungsmaschine. Im Gehirn verändert sich durch dieses Auslagern der Informationen das Arbeitsgedächtnis, sodass auch das Konzentrationsvermögen, also die Zeit, wie lange man sich konzentrieren kann, ohne abgelenkt zu werden, immer kürzer wird. Nach Untersuchungen können NutzerInnen am Computer nur mehr etwa vierzig Sekunden einer Sache nachgehen, bevor sie sich ablenken lassen, was kaum zu einer sinnvollen Arbeitsproduktivität führt. Wenn das Gehirn sich fühlt von der Informationsmenge überfordert, die es verarbeiten soll, dann setzt man sich nicht hin und versucht, differenzierter zu denken, sondern schaltet das Gehirn in einen Modus, undifferenziert zu denken und die Informationen eher abzuwehren. Da beginnt das Gehirn die große Datenmenge reduzieren, indem es nur noch schwarz-weiß gibt, d. h., zu hohe Komplexität führt zum Vereinfachen. Nach einer Studie der von Patricia Greenfield (University of California) macht sich der IQ-Zuwachs vor allem bei nichtsprachlichen Aufgaben bemerkbar, deren Lösung ein hohes Maß an „figuraler Intelligenz“ erfordert, etwa beim Vergleich komplexer Muster oder Drehung geometrischer Figuren. Bei verbalen Tests hat sich der durchschnittliche Grundwortschatz der Amerikaner in den letzten Jahrzehnten zwar vergrößert, aber StudentInnen verstehen im College-Eignungstest SAT immer weniger abstrakte Begriffe, vermutlich weil das Fernsehen allgegenwärtig geworden ist, während die Leselust in der Freizeit abgenommen hat. Elektronischen Medien, insbesondere Computerspiele, dürften insgesamt für den Anstieg der figuralen Intelligenz verantwortlich sein.

Aussagen von Gerald Hüther zum Medienkonsum von Kindern und Jugendlichen

Das Gehirn wird ja so, wie man es benutzt. Besonders stark prägt sich ein, was man mit Begeisterung tut. Dann werden neuroplastische Botenstoffe ausgeschüttet, mit deren Hilfe all jene Nervenzellverschaltungen dieses emotionalen Zustands gefestigt und verstärkt werden, die man in diesem Zustand besonders intensiv benutzt. Wirksame Medienpädagogik müsste Kindern zeigen, wie schön das reale Leben sein kann und dass moderne Medien wunderbare Werkzeuge sind, um damit ein Werk zu vollbringen. Wie Hammer und Schraubenzieher. Kinder wollen ja normalerweise bis zum Alter von drei, vier Jahren ohnehin von sich aus gar nicht fernsehen. Sie wollen viel lieber bei allem selbst mitmachen – und an diesem Punkt wird das Fernsehen uninteressant. Durch die Mediendominanz und die immer geringer werdende gemeinsame Erfahrung entstehen junge Menschen, die sich in zwei Gruppen aufteilen: Die einen wollen mit der Gemeinschaft gar nichts mehr zu tun haben, die anderen hängen in klebrigen Beziehungen fest und müssen den ganzen Tag chatten, SMS schicken und auf Facebook sein. Leider tragen beide Gruppen wenig dazu bei, dass eine menschliche Gemeinschaft in einer gemeinsamen Anstrengung ihre Probleme löst und dabei über sich hinauswächst.

fazit

Der alltägliche Umgang mit den Neuen Medien führt nach Meinung von Neurowissenschaftlern dazu, dass Gehirnzellen sich verändern, wodurch allmählich neue neuronale Bahnen in unserem Gehirn gestärkt und alte geschwächt werden. Man glaubt, dass vor allem die Gehirne der Kinder verändert werden, denn keine Generation davor ist jemals der Stimulation durch Medien in solchem Umfang ausgesetzt gewesen. Kinder und Jugendliche wachsen mit Computer, Internet und Handy auf und haben ihr Gehirn in diesen besonders sensiblen Phasen auf diese Neuen Medien eingestellt.

Sonnleitner
Susanne Sonnleitner
Familylab-Seminarleiterin,
Naturpädagogin,
Familienpflegerin